Die Mehrzahl der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister übt ihr Amt neben ihrem zivilen Beruf aus. Laut einer Bürgermeister:innenbefragung im Jahr 2019 waren das 70 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Unter ihnen gibt es auch einige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Für diese stellt sich aufgrund eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) vom 5. Oktober 2022 (G 173/2022) nun die Frage, ob sie ab 1. November 2023 weiterhin als Rechtsanwält:innen ihr Bürgermeisteramt ausüben dürfen.
Ab diesem Zeitpunkt gilt nämlich aufgrund des VfGH-Erkenntnisses ein veränderter § 20 lit. a Rechtsanwaltsordnung (RAO). Diese Bestimmung regelt die Unvereinbarkeit bestimmter Nebenbeschäftigungen mit der Ausübung der Rechtsanwaltschaft. Ein Beruf, der die Unabhängigkeit in der anwaltlichen Tätigkeit beeinträchtigt, soll der Zulassung der Rechtsanwaltschaft entgegenstehen.
Der Anlassfall
Der VfGH hatte sich aufgrund eines Antrags einer in einem Dienstverhältnis zu einer Gemeinde stehenden Mitarbeiterin auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte mit der genannten Bestimmung der RAO zu beschäftigen. Denn die Abteilungsleiterin des Bürgerservices und stellvertretende Stadtamtsdirektorin wollte auf ihre Funktionen auch während der Ausübung der Rechtsanwaltschaft nicht verzichten.
Damit war zu prüfen, ob diese Tätigkeiten mit dem Rechtsanwaltsberuf vereinbar sind. Für den in erster Instanz zu entscheidenden Ausschuss der Rechtsanwaltskammer waren die Beschäftigungen der Antragstellerin nicht vereinbar, weshalb dieser den Antrag auf Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte wegen Unvereinbarkeit abwies. Die Mitarbeiterin der Gemeinde gab sich mit dem abweisenden Bescheid nicht zufrieden und erhob dagegen Berufung beim Obersten Gerichtshof (OGH). Nach seiner Befassung hegte der OGH jedoch verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 20 lit. a RAO und wandte sich deshalb an den VfGH.
Die Rechtslage
Der § 20 lit. a RAO lautet wie folgt: „Mit der Ausübung der Rechtsanwaltschaft ist unvereinbar: a) die Führung eines besoldeten Staatsamtes mit Ausnahme des Lehramtes; unter der Führung eines besoldeten Staatsamtes ist jede Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung, als Staatssekretär, als Mitglied einer Landesregierung, als Präsident des Nationalrates, als Obmann eines Klubs im Nationalrat, als Präsident des Rechnungshofes oder eines Landesrechnungshofes, als Mitglied der Volksanwaltschaft, als Mitglied des Verwaltungsgerichtshofs, als Staatsanwalt, als Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit oder eines Verwaltungsgerichts sowie jede entgeltliche Tätigkeit zu verstehen, die unter der Leitung der obersten Organe des Bundes oder der Länder, des Vorsitzenden der Volksanwaltschaft oder des Präsidenten des Rechnungshofes durch ernannte berufsmäßige Organe erfolgt; keine Unvereinbarkeit liegt im Fall der Bekleidung eines Mandats einer gesetzgebenden Körperschaft vor.“
Nach dem Wortlaut des § 20 lit. a RAO ist abgesehen von den konkret angeführten Funktionen somit jede entgeltliche Tätigkeit mit der Rechtsanwaltschaft unvereinbar, die unter der Leitung der obersten Organe des Bundes oder der Länder, des Vorsitzenden der Volksanwaltschaft oder des Präsidenten des Rechnungshofes durch ernannte berufsmäßige Organe erfolgt.
Für den OGH stellt die Beschränkung auf ernannte berufsmäßige Organe (=Beamte) eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber vertraglich bestellten Organen (=Vertragsbedienstete) dar.
Das Erkenntnis des VfGH
Der VfGH teilt die Bedenken des OGH. Die durch die Legaldefinition in § 20 lit. a RAO bewirkte unterschiedliche Behandlung von Beamten und Vertragsbediensteten widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz.
Für das Höchstgericht bestehen keine sachlichen Gründe, weshalb die Unvereinbarkeit mit der Ausübung der Rechtsanwaltschaft allein von der dienstrechtlichen Stellung des Organs abhängig sein soll. Aus diesem Grund hob der VfGH mit seinem Erkenntnis vom 5. Oktober 2022 die Wortfolge „durch ernannte berufsmäßige Organe“ in § 20 lit. a RAO auf, wobei die Aufhebung mit Ablauf des 31. Oktober 2023 in Kraft tritt.
Klarstellung zur Unvereinbarkeit nötig
Aufgrund des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhaltes könnte man zunächst meinen, dass diese lediglich für Beamte und Vertragsbedienstete relevant sei.
Die Aufhebung der Wortfolge „durch ernannte berufsmäßige Organe“ in § 20 lit. a RAO bewirkt jedoch nicht nur die vom VfGH gewünschte Beseitigung der Ungleichbehandlung von Beamten und Vertragsbediensteten, sondern generell die Unvereinbarkeit all jener entgeltlichen Tätigkeiten, die unter der Leitung der im Gesetz angeführten obersten Organe erfolgen.
Eine Unvereinbarkeit kann daher auch gewählte Organe treffen. Zu Letzteren zählen unter anderem die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, für die die gegenständliche Aufhebung durch den VfGH hinsichtlich ihrer Aufgaben im übertragenen Wirkungsbereich problematisch werden könnte. Schließlich sind es im übertragenen Wirkungsbereich die Bürgermeister:innen, die gemäß Art. 119 Abs. 2 B-VG die Angelegenheiten des Bundes oder des Landes unter Weisung des zuständigen Bundes- oder Landesorgans zu vollziehen haben.
Im übertragenen Wirkungsbereich besteht somit eine Weisungsgebundenheit der Bürgermeister:innen gegenüber den obersten Bundes- und Landesorganen. Und diese könnte für Rechtsanwält:innen künftig eine Unvereinbarkeit bedeuten. Damit die betroffenen Bürgermeister:innen – wie bisher – weiterhin ihren Rechtsanwaltsberuf ausüben können, braucht es deshalb rasch eine Klarstellung durch eine Sanierung bzw. Adaptierung des § 20 lit. a RAO.
Denn eines steht unzweifelhaft fest: Das Bürgermeisteramt muss weiterhin einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich sein. Dies gilt umso mehr für Zeiten, in denen es immer schwieriger wird, Menschen für dieses Amt zu begeistern.
– M. PICHLER ist Jurist im Österreichischen Gemeindebund