Das Thema Blackout-Vorsorge ist zweifellos komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Für die Phasen 1 und 2, den Strom- und Telekommunikationsausfall eines möglichen Blackouts, kann bei grundsätzlich vorhandener Sensibilisierung mit vergleichsweise geringem Aufwand schnell ein guter Vorsorgegrad erreicht werden. Dies ist durch die Eigenvorsorge oder mit einfachen Ablaufplänen, wie sie z. B. im Leitfaden Blackout-Vorsorge in Unternehmen und Organisationen (https://gfkv.org/unternehmen) beschrieben sind, möglich.
Probleme beim Wiederanlauf
Das Bewusstsein um die Herausforderungen der Phase 3, dem Wiederanlauf, ist bisher nicht sehr ausgeprägt. Es ist zu erwarten, dass fehlende Ersatzteile, nicht verfügbares Personal für Betrieb, Wartung und Vertrieb oder auch anderer Ressourcen einen schnellen Wiederanlauf erheblich verzögern werden. Das betrifft auch die Treibstofflogistik, wo mit erheblichen Störungen zu rechnen ist. Diese werden sich auch unmittelbar auf die Leistungsfähigkeit der Entsorgungswirtschaft auswirken. Die organisatorische Blackout-Vorsorge darf sich daher nicht nur auf den Stromausfall (Phase 1) selbst konzentrieren, sondern vor allem auf die auf der Zeitachse entstehenden Folgen des Ausfalls von Strom und Kommunikation, die zu einem großflächigen Zusammenbruch der Versorgungsketten führen.
Unverzichtbare Eigenvorsorge
Das Kernproblem der generell unzureichenden Fähigkeit der Bevölkerung, sich durch Eigenvorsorge mindestens 14 Tage selbst zu versorgen, wirkt sich in der Regel auch unmittelbar auf die Verfügbarkeit des eigenen Personals aus. Denn die Eigenvorsorge zu Hause ist durch nichts zu ersetzen und ist die wesentliche Grundlage dafür, dass das Personal für den Wiederanlauf überhaupt zur Verfügung steht. Das muss endlich klar angesprochen werden und erfordert auch von der Unternehmensseite ein aktives Handeln.
Entsorgung vor Versorgung
Die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern in der Phase 3 kann erst wieder aufgenommen werden, wenn zunächst eine Entsorgung der verdorbenen Produkte erfolgt ist. Im schlimmsten Fall könnte im Lebensmittelhandel ein Vielfaches der üblichen Jahresmenge an Abfällen anfallen, wenn eine vorab geplante Notabgabe verderblicher Waren in der Phase 1 und 2 nicht oder nicht ausreichend funktioniert.
Abhängig von der Jahreszeit und den Außentemperaturen würden diese feuchten Abfälle sehr schnell zu ernsthaften Hygieneprobleme im Verkaufsbereich führen. Im Freien gelagerte Nassabfälle können zu extremen Geruchsbelästigungen oder zu Schädlingsbefall bis hin zu Krankheitsübertragungen führen, insbesondere bei Fleisch-, Fisch- und Geflügelprodukten, die nach der Verordnung des Gesundheitsministeriums auf jeden Fall entsorgt werden müssen.
Auch größere Mengen an Milchprodukten könnten anfallen, ganz abgesehen von der Frage, was mit den Millionen Litern Rohmilch geschehen soll, die täglich anfallen und nicht abgeholt und verarbeitet werden können. Hinzu kommen mögliche problematische Zusatzabfälle entlang der Produktionsketten und natürlich der Hausmüll.
Beim Hausmüll kommt erschwerend hinzu, dass möglicherweise auch Fäkalien über die Müllabfuhr entsorgt werden müssen, sollte die Spülung der Toiletten nicht mehr funktioniert.
Übermengen an problematischen Abfällen
Je nach Dauer der Phase 1 ist insgesamt mit überdurchschnittlichen Mengen an verdorbenen Waren und damit Nassmüll zu rechnen. Dies betrifft den privaten wie den öffentlichen Bereich. Waren in den Kühl- oder Gefrierschränken, können nicht zubereitet oder verwendet werden und müssen entsorgt werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der selten bedacht wird, ist die Entsorgung von toten Haustieren, was bei einem Großteil der ca. 3 Millionen Aquarienfische in Privathaushalten der Fall sein kann. Sie gehören weder in die Kanalisation noch in den Restmüll. Aber wohin damit?
Und was ist mit den möglichen Übermengen in der Gastronomie oder im Catering?
Längerfristig unterbrochene Kühlketten
Nicht nur der Inhalt, auch der mögliche Ausfall vieler Kühlvitrinen in Supermärkten stellt einen besonders großen Unsicherheitsfaktor dar. Nach einem mehrstündigen Stromausfall werden viele zum Wartungsfall und fehlen über Wochen, bis sie wieder instand gesetzt werden können. Der sehr hohe Gleichzeitigkeitsfaktor ist weder personell noch materiell zu bewältigen. Welche Folgen könnte dies für die gesamte Produktionskette und Entsorgung haben?
Es trifft etwa die trotzdem produzierte Rohmilch. Oder die hochoptimierten Schlacht- und Verarbeitungsketten, wenn Tiere nicht rechtzeitig geschlachtet werden können oder plötzlich zu viele Tiere verarbeitet werden müssen.
In Deutschland führte der coronabedingte Ausfall von zwei großen Schlachthöfen im Jahr 2020 zu einem Schlachtstau von einer Million Schweinen, der erst nach Monaten aufgelöst werden konnte. Was aber, wenn nicht nur zwei Betriebe betroffen sind, sondern alle und die gesamte Kette?
Wenn die gesamte hochoptimierte und synchronisierte Logistik aus dem Gleichgewicht gerät, ist mit enormen Kaskadeneffekten zu rechnen. Eine Stabilisierung dürfte wohl Monate und länger dauern.
Zu Ende denken
Deshalb sind jetzt Analysen und systemische Betrachtungen wichtiger denn je. Wir müssen herausfinden, wie wir diesen Effekten entgegenwirken und wie wir die Folgen für alle Bereiche, sowohl für die Bürgerinnen und Bürger als auch für die Unternehmen, abmildern können. Denn ein „Das werden wir dann schon machen“ wird mit ziemlicher Sicherheit scheitern.
Wer ist zuständig?
Es stellt sich sehr schnell die Frage, wer zuständig ist und wie man damit verfahren soll. Wir haben sehr erfolgreiche Prozesse für den Normalbetrieb, aber kaum Vorkehrungen für einen derart umfassenden Krisenfall. Die vorhandenen Notfall- und Seuchenpläne reichen bei Weitem nicht aus.
Hinzu kommt, dass die Entsorgungswirtschaft mit immer mehr Vorschriften und Regelungen konfrontiert wird, die den Handlungsspielraum zunehmend einschränken. Dadurch stehen immer weniger Ressourcen für so komplexe Themen wie die Störfallvorsorge zur Verfügung. Das ist keine gute Ausgangslage. Dennoch muss auch dieses Thema angegangen werden, zumindest nach dem 80:20-Prinzip: Mit 20 % des Aufwandes 80 % des Erfolges erzielen.
Die ersten Schritte sind daher von den Entsorgungsunternehmen zu setzen und weitere Akteure wie Behörden und Verwaltung in die weitere Problemlösung einzubeziehen. Zu warten, bis jemand damit beginnt, wird in jedem Fall scheitern. Wir müssen das Thema gemeinsam angehen.
Erste Schritte
In einem ersten Schritt ist es wichtig, die zu erwartenden Fragen und Probleme zuzulassen und aufzuzeigen, ohne gleich eine Antwort parat haben zu wollen. Eine schnelle Lösungsmöglichkeit kann bei einem so komplexen Thema sogar kontraproduktiv sein. Denn das Ganze zu erfassen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, ist viel wichtiger als sich mit allen Details und Einzellösungen zu beschäftigen. Sonst hat man zwar im Kleinen die perfekte Lösung, die aber in der Gesamtbetrachtung kaum einen Mehrwert bringt oder sogar unnötig Ressourcen bindet und daher kontraproduktiv ist.
Fragen erfassen
Um zu diesem Gesamtbild zu gelangen, müssen zunächst einmal die möglichen Abfallmengen und -arten erfasst werden. Dazu müssen die Kunden einbezogen und sensibilisiert werden, damit diese in der Lage sind, eine Einschätzung abgeben zu können. Dann geht es um die nächsten Schritte, d. h. wie können diese Abfälle möglichst schnell aus den Problembereichen entfernt werden und welche weiteren Aufgaben sind zu lösen.
- Welche Ressourcen werden dafür benötigt?
- Können andere Akteure wie z. B. andere Transportunternehmen dazu herangezogen werden?
- Wie und wo kann eine möglichst unproblematische Zwischenlagerung sichergestellt werden?
- Was muss dafür vorbereitet werden? Zum Beispiel durch Verpackung oder die Vorbereitung von temporären Sonderdeponiestandorten („Wasenplätzen“).
- Wie schnell können die Verwertungsanlagen, in der Regel Müllverbrennungs- oder Kompostieranlagen, wieder hochgefahren werden, um die zu erwartenden Übermengen zu verarbeiten?
- Können auch Biogasanlagen genutzt werden?
- Was ist mit Abfällen, die im Alltag über die Grenze gehen? Funktioniert das? Welche Probleme sind möglicherweise von anderen Ländern zu erwarten?
- Wie sieht die Treibstofflogistik aus? Gerade der Sammeldienst ist sehr kraftstoffintensiv. Daher muss die Treibstoffversorgung beim Wiederanlauf der Entsorgungsbetriebe ab der Phase 2 priorisiert werden, was aber auch wieder vorbereitet und mit den Behörden und Treibstofflogistikunternehmen abgestimmt werden muss.
Priorisierung und Sonderverfahren
Biogene Abfälle, Tierkadaver oder Küchenabfälle müssen vorrangig behandelt werden. Aber kann das überhaupt sauber getrennt werden und ist das sinnvoll? Wie kann die Bevölkerung im Vorfeld sensibilisiert und zum richtigen Verhalten und Trennen animiert werden? Viele Fragen, die noch zu beantworten sind.
Größere Mengen an Falltieren aus der Landwirtschaft können in der Tierkörperbeseitigung nur sehr eingeschränkt verwertet werden. Die vorhandenen Verfahren und Anlagen sind nicht in der Lage, einen erwartbaren Massenanfall zu bewältigen. Aber von welchen Mengen ist überhaupt auszugehen?
Das bedeutet, dass für einen großen Teil der während der Phasen 1 und 2 anfallenden Sonderabfälle, wie z.B. alle Fleisch-, Fisch- und Geflügelprodukte aus dem Handel, spezielle Verfahren erforderlich sind, die derzeit bisher nicht wirklich vorbereitet und vorhanden sind. Ansonsten würde der normale Wiederanlauf extrem erschwert werden.
Auswirkungen auf die Entsorgungswirtschaft
Damit ergeben sich weitere Fragen:
- Welche Folgen hat es für andere Bereiche, die nicht wie gewohnt entsorgt werden können, wenn Entsorger die Sammlung und Abfuhr umstellen und dabei Prioritäten setzen müssen? Welche Konsequenzen sind damit für die gesamte Wertschöpfungskette zu erwarten?
- Welche Konsequenzen haben die Verfahrensänderungen auf bestehende Verträge und Service-Level-Agreements (SLAs) aber auch auf die Betriebsabläufe?
- Können Umweltschutz- und andere Anforderungen unter diesen Bedingungen aufrechterhalten werden oder sind Sonderregelungen erforderlich?
- Wer ordnet entsprechende Sondermaßnahmen an und wer bezahlt diese?
Bei einer gesamtheitlichen Betrachtung und dem Aufzeigen der erfassten Abhängigkeiten ergeben sich wohl noch viele weitere offene Fragen, auf die es heute noch keine Antworten gibt. Umso wichtiger ist es, genau diese Fragen jetzt zu stellen und zu sammeln. Denn nur so können wir uns auch mit Lösungen beschäftigen, welche der Größe des Problems gerecht werden.
Fehlende robuste Lieferketten
Der Complexity Science Hub Vienna hat bereits im Juni 2020 im Rahmen der Studie „Wie robust sind die österreichischen Lieferketten?“ festgestellt, dass die österreichischen Lieferketten insgesamt nur bedingt resilient sind. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis es zu systemrelevanten kaskadierenden Versorgungskrisen kommt. Im Falle eines Blackouts ist dies definitiv zu erwarten. Auch wenn es bisher immer wieder gut gegangen ist, sollten wir nicht blauäugig und unvorbereitet in die nächste Krise schlittern. Vor allem dann nicht, wenn dadurch eine rasche gesamtgesellschaftliche Erholung nicht zu erwarten ist.
Ins Tun kommen
Wir müssen uns also ‑ trotz vieler anderer aktueller und vorrangiger Themen ‑ die Zeit nehmen, uns mit den dargestellten Fragekomplexen zu beschäftigen und weitere Fragen zu finden.
Der einfachste Schritt der Vorsorge beginnt bei uns selbst und bei unseren Mitarbeitern: Wir müssen uns bewusst machen, dass jeder von uns mit einer 14-tägigen Eigenvorsorge zur Entschärfung des Problems beitragen kann. Denn nur so können wir nach einem solchen möglichen Ereignis möglichst rasch wieder eine Notversorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen in Gang setzen. Die Abfallwirtschaft, die Abwasserentsorgung oder auch das Bestattungswesen sind dabei wesentliche Bausteine.
Egal, in welcher Rolle Sie diesen Beitrag lesen– als Privatperson, als Vertreter der Entsorgungswirtschaft oder Repräsentant der öffentlichen Hand – Sie sind in jedem Fall sowohl Teil der Lösung als auch des Problems, das hier auf uns zukommt. Die absehbaren Herausforderungen können wir nur gemeinsam bewältigen. Und dazu kann und muss jeder seinen Beitrag leisten und das Thema im eigenen Bereich weiter vorantreiben. Das Schlimmste ist, darauf zu warten, dass jemand anderes die Probleme löst, die uns betreffenden.
Über den Tellerrand hinausdenken
Wenn wir uns der Probleme bewusst sind, können wir auch geeignete Lösungen finden. Dazu ist es jedoch notwendig, gewohnte Denkmuster zu verlassen. Wie Albert Einstein uns bereits gelehrt hat, können wir die Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen, mit der sie entstanden sind.
Die in Zusammenhang mit einem möglichen Blackout zu erwartenden Folgen mögen unsere Vorstellungskraft übersteigen. Das darf uns aber nicht abhalten, das Risiko anzunehmen und uns auf den schlimmsten Fall vorzubereiten, wofür wir auch spezielle Verfahren entwickeln müssen. Das bedeutet gegebenenfalls, bewährte Strukturen und Sicherheits- und Qualitätsanforderungen vorübergehend außer Kraft setzen zu müssen. Alles andere wäre blauäugig und würde nicht zur Problembewältigung beitragen. Denn wir können zwar die Realität ignorieren, aber wir können nicht die Folgen dieser ignorierten Realität ignorieren.
Um eine Krise dieser Größenordnung erfolgreich zu bewältigen, müssen wir vor allem eines sein: flexibel, anpassungsfähig, kooperativ und bereit zum Handeln. Beginnen wir jetzt damit!
– H.SAURUGG MSc, internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte sowie Präsident der Gesellschaft für Krisenvorsorge
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