Unter der Woche in Wien und am Wochenende bei der Mama am Land, vier Tage zu Hause und drei beim Partner verbringen: Multilokalität bedeutet, an mehr als einem Ort zu wohnen. 1,2 Millionen Österreicher leben diese Realität – Tendenz steigend.
Was ist die Mehrzahl von Heimat? Für jene Menschen, die sich an zwei oder mehreren Orten auf dieser Welt heimisch fühlen, ist es Alltag. Für Germanisten ist es „Heimaten“. Laut der Publikation „Leben an mehreren Orten“ der oberösterreichischen Zukunftsakademie (ZAK), die im September 2019 veröffentlicht wurde, ist das Phänomen der Multilokalität relativ neu. Seit etwa dreißig Jahren tritt es vermehrt auf. Menschen leben, arbeiten, lernen, schlafen, essen, feiern und vor allem gestalten an mehreren Orten. Multilokal Lebende bringen ihr Wissen, ihr Netzwerk und ihre Erfahrungen mit, wenn sie zwischen ihren Wohnsitzen pendeln. Sie können damit für ländliche Regionen eine enorm wertvolle Ressource und mögliche Bereicherung darstellen – wenn man sie zu nutzen weiß.
Mehr als Sommerfrische 4.0
Mobil zu sein liegt den Menschen in den Genen. Historisch hieß die Niederlassung an einem neuen Ort aber auch gleichzeitig die alte Heimat hinter sich zu lassen. Das muss heute nicht mehr so sein. War das Leben und Wohnen an zwei oder mehreren Orten anfangs nur Studierenden mit Familie am Land und finanziell gut situierten Pensionisten in der Sommerfrische zugeschrieben, findet man heute Multilokalität quer durch alle Altersgruppen und soziale Schichten, laut ZAK-Trendbericht.
Verbunden mit zwei Zuhause
So lernen wir darin etwa Ingrid kennen, die ihre Woche teils im Wiener Büro, teils im „Home Office“ in Linz verbringt. Dominik hingegen zog’s für’s Studium in die steirische Landeshauptstadt, dennoch lässt er kein Fußballspiel in seiner oberösterreichischen Herkunftsgemeinde aus. Die Sechzig Plus-Dame Dagmar und ihr Partner wollen beide ihre jeweilige Wohnungs-Eigenständigkeit mit den damit verbundenen Familienstrukturen beibehalten, und bevorzugen eine Beziehung mit zwei Wohnsitzen, zwischen denen sie pendeln. Die Motive für einen multilokalen Lebensstil sind also zahlreich, und auch die Chancen sind breit gefächert. In einer Umfrage der ZAK gaben multilokal lebende Menschen etwa die Abwechslung, die Horizonterweiterung und optimale Ergänzung von Arbeit in der Stadt und Erholung am Land als größte Vorzüge an.
1,2 Millionen Pendler mehr einbinden
Regionalforscher und Mulitlokalitäts-Experte Peter Weichhart vermutet, dass in Österreich etwa 1,2 Millionen Menschen multilokal leben. „In den Gemeinden wirkt sich Multilokalität auf Gemeinwesen, Politik, örtliche Wirtschaft und die Infrastruktur aus. Wenn man das mit 1,2 Millionen multipliziert, sieht man, dass das ein hoch relevantes Thema für die Gesellschaft ist. Für ländliche Gebiete sind damit viele potenzielle Chancen verbunden“, äußert sich Weichhart gegenüber der ZAK. Er empfiehlt Menschen mit mehreren Wohnsitzen stärker in örtliche Sozialgefüge einzubinden, um ihre Sozialkompetenz und ihr Humanpotenzial für die regionale Entwicklung zu nutzen.
Multilokale willkommen heißen
Beinahe schon Abgewanderte, welche im Zuge ihrer multilokalen Lebenspraxis noch greifbar sind, sind für ländliche Gemeinden die potenziellen Rückkehrer von morgen. In ihrem Trendreport stellt die ZAK vier zentrale Handlungsfelder vor, in denen Gemeinden Mulitlokalität fördern können, um davon zu profitieren: „Bewusstsein und Ansprechstrukturen“, „Soziales Miteinander und Engagement“, „Wohnen und Infrastruktur“ sowie „Arbeit und regionale Wirtschaft“. Als mögliche Maßnahmen nennt die Zukunftsakademie etwa die Beauftragung einer Ansprechperson in der Gemeindeverwaltung für Multilokale, die aktive Unterstützung für Rückkehrende und den Aufbau eines Netzwerkes als Andockstelle.
Online mitbestimmen
Ein großes Thema ist auch hier die Digitalisierung: Durch die Nutzung von digitalen Medien kann die Gemeinde Informationen und Nachrichten zu aktuellen Aktivitäten und Angeboten zur Verfügung stellen. Digital schafft man es auch, mehr Bewohner in die Entwicklungsprozesse des Ortes einzubinden. So fühlen sich auch Menschen, die gerade nicht vor Ort sind, verbunden.
Gemeindebund sieht Entwicklung differenziert
Der österreichische Gemeindebund beobachtet den Trend Zweitwohnsitz mit kritischem Auge. Dieser birgt nämlich nicht bloß Vorteile für die Gemeinden. Mit dem Zweitwohnsitz sind zwar auch Abgaben verbunden, die zur Tourismusabgabe zählen, doch diese decken nicht unbedingt die zusätzlichen Ausgaben. Die Zweitwohnsitzabgabe gibt es derzeit in Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg. Auch die Baulandverknappung, die steigenden Immobilienpreise und die Abwanderung der jungen Bevölkerung zählen zu den negativen Auswirkungen des Trends. Außerdem kann Multilokalität für kleine Gemeinden auch die Steigerung von Infrastrukturkosten und gleichzeitig einen Rückgang der Kommunalabgaben bedeuten. Gemeinden haben durch Zweitwohnsitzler also mit überdimensionierten Ausgaben in der Ver- und Entsorgungsinfrastrukur zu kämpfen.
Ost-West-Gefälle bei Zweitwohnsitz-Zuspruch
In touristisch eher ungenutzten Regionen sind Zweitwohnsitze vielfach sogar erwünscht. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Revitalisierung leer stehender Althäuser in von Abwanderung betroffenen Gebieten. Dazu zählt vor allem das Burgenland und Niederösterreich. Um den Trend für mehr Gemeinden zum Positiven zu wenden fordert der Gemeindebund eine einheitliche Definition im Melderecht, Abgabenrecht, Raumordnungsrecht und im Baurecht. Außerdem sollen Gemeinden die Zweitwohnsitzabgabe selbst beschließen können – ohne gesetzliche Schranken des Landes.
Langlebiges Phänomen trotz Herausforderungen
Auch die Menschen selbst, die zwischen Wohnsitzen pendeln – sei es für den Beruf, die Ausbildung oder Partnerschaft und Familie -, stehen vor logistischen Herausforderungen. Die Organisation der mehrfachen Haushaltsführung etwa, und auch die finanzielle Belastung wiegt schwer. Außerdem kann einem das Heimweh überall packen, denn auch wenn man Zuhause ist, ist man der Heimat fern. Dennoch erleben es die Befragten als eine befreiende und bereichernde Erfahrung, eine, die auch nicht von Kurzlebigkeit geprägt ist. Ganze 75 Prozent beantworteten die Frage der ZAK, ob sie auch in fünf Jahren noch multilokal leben werden, mit „Ja“. Das Phänomen Multilokalität ist also kein flüchtiges – und wird, wenn der Trendreport Recht behält, in Zukunft immer mehr Menschen betreffen.
Die vollständige Publikation „Leben an mehreren Orten“ der oberösterreichischen Zukunftsakademie finden Sie unter Exemplar der Publikation „Leben an mehreren Orten“ zum kostenfreien Download.
-E. AYAZ