Noch vor wenigen Monaten putzte sie das Amtsgebäude – heute sitzt sie im Chefsessel. Marina Udgodskaya ist 35 Jahre alt und darf sich seit Neuestem Bürgermeisterin der russischen Gemeinde Povalikhino nennen. Eine – beinahe zynische – Fügung des Schicksals unterstreicht die Bedeutung und die Durchsetzungskraft der Demokratie, selbst in einem „gelenkten“ System.
Kandidatur war ein Vorwand – der Wahlerfolg ein Zufall
Marina Udgodskaya war als Reinigungskraft im Amtshaus von Povalikhino angestellt, als der amtierende Bürgermeister der 424-Einwohner-Kommune kurz vor der Wahl im Herbst 2020 auf der Suche nach einem „Pseudo-Gegenkandidaten“ war. In Österreich kommt es immer wieder vor, dass sich nur ein Kandidat der Bürgermeisterwahl stellt – und es ist auch nicht weiter schlimm. In Russland aber, wo man darauf bedacht ist, demokratische Wahlen zumindest zu simulieren (obwohl immer die Regierungspartei gewinnt), braucht es für den öffentlichen Anschein einen Herausforderer. Oder eine Herausforderin.
Wie so oft in ländlichen Gebieten fiel es auch dem damaligen Ortschef Nikolai Loktev schwer, einen passenden Gegenkandidaten zu finden. Nach mehreren Absagen fragte Loktev am Ende seine Reinigungskraft, die sich aus Solidarität ihrem Arbeitgeber gegenüber dazu bereit erklärte, die Rolle zu übernehmen. Zu dumm nur, dass sie die Wahl dann völlig überraschend gewann – noch dazu mit überwältigender Mehrheit.
Die Wahl zeigt: Es zählt die Nähe zu den Menschen
Anfangs sei sie vollkommen überwältigt gewesen, erzählte Udgodskaya der New York Times. Sie hatte ihrem Chef doch nur helfen wollen, damit die Wahl überhaupt erst stattfinden konnte. Zuerst hatte sie noch Bedenken, doch schließlich nahm die frisch gewählte Bürgermeisterin ihr Amt doch an.
Als erste Amtshandlung – nachdem sie die frei gewordene Stelle der Reinigungskraft nachbesetzt hat – will Udgodskaya eine Straßenbeleuchtung für die ländliche Gemeinde anschaffen. Das hätten sich die Menschen schon lange gewünscht. Ein weiteres Plus: Als Bürgermeisterin verdient die 35-Jährige jetzt auch mehr als doppelt soviel wie zuvor als Putzfrau. Für Politik hat sich die Neo-Bürgermeisterin nie interessiert. Dafür kennt sie die Menschen im Ort, deren Sorgen und Probleme. Wie der Vorfall zeigt, zählt das in manchen Fällen mehr, als ein Politikstudium.
Tiefgreifende Probleme offengelegt
Der Fall zog in den russischen Medien viel Aufmerksamkeit auf sich und zeigt auch die Abgründe des „autoritär-demokratischen“ Systems. Politische Macht wird in den meisten Ländern durch Wahlen legitimiert – ob diese frei ablaufen, ist eine andere Frage. Wie man am aktuellen Fall von Putin-Kritiker Alexei Nawalny erkennen kann, bleibt eine wahre Opposition in solchen Systemen unerwünscht, da sie das Machtmonopol gefährdet. Wenn also alle tatsächlichen Gegenspieler zum Verstummen gebracht werden, braucht es dennoch eine vermeintliche Opposition, um die Fassade der Demokratie aufrechtzuerhalten.
Dieses Vorgehen rächt sich, wenn am Ende das Volk unerwartet den Gegenkandidaten wählt. Ein ähnlicher Fall in der sibirischen Region Khabarovsk endete für den unverhofften Wahlsieger mit einer Inhaftierung. Man kann nur hoffen, dass es für Marina Udgodskaya besser ausgeht.
-E. SCHUBERT